Der Vortrag findet Online und in englischer Sprache statt. / The lecture will be held online, and in English.
Zoom-Link:
https://us02web.zoom.us/j/84484459995?pwd=T3VodWtONnVsNGpGdTh3Mnd6MHVwQT09
Zur Zeit des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg (1945-1946) traf Robert H. Jackson, Chefankläger der USA, die kontoroverse Entscheidung, die Prozesse auf das Verwaltungsarchiv des Naziregimes und nicht auf die Aussagen von Überlebenden zu stützen und somit lebende Zeugen zugunsten von dokumentarischen Beweisen zu umgehen. Diese Entscheidung ist (meiner Meinung nach) das vielleicht bemerkenswerteste Beispiel für die vermeintliche juristische Handlungsfähigkeit („agency“) des technischen Zeugen. Jacksons rückblickende Kommentare aus dem Jahr 1954 unterstreichen sowohl die nüchterne Unvoreingenommenheit, die er solchen materiellen Artefakten zuschreibt – die papiernen Spuren, die die systematische Planung und Durchführung der Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden bestätigen würden – als auch den impliziten Glauben, dass das schiere Ausmaß und die durchschaubaren Ambitionen des Dritten Reichs, die in diesen Aufzeichnungen zum Ausdruck kommen, an sich stumme Zeugen in vollwertige Vertreter der juristischen Rede verwandeln würden. Mit anderen Worten: Das Material würde für sich selbst sprechen.
Während Nürnberg, so die Literaturtheoretikerin Shoshana Felman, einen bedeutenden Beitrag zur Rechtsprechung leistete, indem es einen verbindlichen, rechtlichen Präzedenzfall für Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuf, war es schließlich der Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961), der den lebenden Zeugen in den Zeugenstand zurückbrachte und damit das einleitete, was Thomas Keenan und Eyal Weizman in Anlehnung an Felmans und Dori Laubs Behauptung, das zwanzigste Jahrhundert sei das “Zeitalter der Zeugenschaft”, als “Ära des Zeugen” bezeichnet haben. Felman behauptet, dass die beiden Prozesse – Nürnberg und Jerusalem – die grundlegenden Unterschiede zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Formen der Beweisführung inszenierten. Doch wie Hannah Arendt in ihrer Kritik am Eichmann-Prozess eindringlich dargelegt hat, verlagerte sich durch die Konzentration auf die Zeugenaussagen der Überlebenden auch die juristische Aufmerksamkeit auf das Opfer und weg vom Täter. In diesem Vortrag werde ich auf diese entscheidende Differenz zurückkommen, indem ich ein außergewöhnliches Videoband untersuche, das Liri Loshi nach dem Massaker von Izbica im Kosovo im März 1999 aufgenommen hat und welches als Beweis für Verbrechen gegen die Menschlichkeit während eines der Prozesse gegen Slobodan Milošević in Den Haag vorgelegt wurde.
Susan Schuppli ist eine im Vereinigten Königreich lebende Künstlerin und Forscherin, die sich in ihrer Arbeit mit materiellen Beweisen aus Kriegen und Konflikten, Umweltkatastrophen und dem Klimawandel befasst. Ihre aktuelle Arbeit konzentriert sich auf die ‘Politik der Kälte’ und steht unter dem Motto “Learning from Ice”. Ihre Arbeiten und Projekte wurden in ganz Europa, Asien, Kanada und den USA ausgestellt. Sie ist Preisträgerin der kürzlich verliehenen COP26 Creative Commission, die vom British Council gefördert wird. Schuppli hat zahlreiche Publikationen im Kontext von Medien und Politik veröffentlicht und ist Autorin des neuen Buches “Material Witness: Media, Forensics, Evidence”, das 2020 bei MIT Press erscheint. Sie ist Direktorin des Centre for Research Architecture an der Goldsmiths University of London und ist assoziierte Künstlerin und Forscherin sowie Vorstandsvorsitzende von Forensic Architecture.