Kunstverein Nürnberg – Albrecht Dürer Gesellschaft

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GROUND: Online Screenings + Interview

Leslie Thornton
17. April bis 26. Juli 2020

Leslie Thornton – Ground (2020) (Ausschnitt), 13 min, Farbe und Ton, HD-Video. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

Das folgende Interview zwischen Leslie Thornton und Milan Ther wurde am 17. April 2020 auf der Website des Kunstvereins veröffentlicht. Begleitend dazu wird wöchentlich ein Film aus Thorntons Ausstellung GROUND im Kunstverein Nürnberg hier online gezeigt.

„Ground“ (2020) wurde im Auftrag des Kunstvereins Nürnberg – Albrecht Dürer Gesellschaft e.V. zusammen mit Arts at CERN mit großzügiger Unterstützung der U.S. Mission bei den Vereinten Nationen in Genf realisiert. Die Produktion des Films wurde durch das Centre d’Art Contemporain Genf, die Biennale d’Image en Mouvmement 2018 und dem Caltech-Huntigton Program in Visual Culture unterstützt. Die Ausstellung im Kunstverein Nürnberg wurde durch die Zumikon Kulturstiftung ermöglicht.

Thorntons früher Film „X-TRACTS“ ist nicht in der Ausstellung zu sehen, wird aber in dem Interview besprochen und ist daher ebenfalls Teil des Onlinescreenings. Von sämtlichen Filmen sind weiter unten Ausschnitte vorhanden.

17.04.–23.04. Ground (2020)
24.04.–30.04. Cut From Liquid to Snake (2018)
01.05.–07.05. Peggy and Fred in Hell: Folding (1983-2016)
08.05.–14.05. The Last Time I Saw Ron (1994) / Strange Space (1993)
15.05.–21.05. Jennifer, Where Are You? (1981)
22.05.–28.05. X-TRACTS (1975)

MT: Wir haben deine Ausstellung GROUND im Kunstverein Ende Februar, vor etwa anderthalb Monaten, eröffnet. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs befindet sich die Welt im Krisenzustand und wir sprechen über deine Ausstellung und insbesondere über deinen neusten Film „Ground“ (2020), der sich auch mit einer Art globalen Angst beschäftigt. Über die letzten vier Jahrzehnte deiner Praxis zieht sich dein Interesse an Wissenschaft, Sprache und der Formierung von Wissen wie ein roter Faden. „Ground“ wurde weitgehend am CERN, dem experimentellen Labor der Europäischen Organisation für Kernforschung, gedreht. Wie bist du dort gelandet?

LT: Es gibt Geschichten, die zu außergewöhnlich, um wahr zu sein, Zum Beispiel wenn du erfährst, dass dein Vater, ein junger Armee-Techniker während des Zweiten Weltkriegs, auf der Atombombe unterschrieben hat, die auf Hiroshima abgeworfen wurde. Früher wurden Bomben signiert und ihm wurde aufgetragen er soll alle Unterschriften von der Atombombe löschen, kurz bevor sie auf die Enola Gay geladen wurde. Er tat dies mit einem Lötkolben und dann setzte er seinen eigenen Namen, sowie die Namen seiner Mutter und seines Vaters ein, die alle auf unterschiedliche Weise mit dem Manhattan-Projekt zu tun hatten. Meine Großmutter war über das aufgrund der Geheimhaltungsstufe des Projekts verordnete Schweigen ihres Mannes und ihres Sohnes sehr beunruhigt.

Das erste Mal, als ich ans CERN ging, war es wegen einer Anekdote über einen Physiker, Val Fitch – ein amerikanischer Kernphysiker, der 1980 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde (zusammen mit seinem Kollegen James Cronin). 1964 bewiesen sie mit einem linearen Teilchenbeschleuniger, dass bestimmte subatomare Reaktionen nicht den fundamentalen Symmetrieprinzipien entsprechen und hinterfragten damit eine der Grundlagen der Physik – nämlich, dass Naturgesetze von Symmetrie bestimmt werden. Der Wissenschaftler in „Ground“ spricht genau darüber. Deshalb haben wir ihn auch aufgesucht. Wir wollten am CERN jemanden treffen, der bereit war, über Fitchs Arbeit zu sprechen – nicht so sehr, weil ich mich für die Wissenschaft interessierte oder sie besonders verstand, sondern wegen einer Geschichte, Fitchs Geschichte, wie er zum Physiker wurde.

Mein Vater, der Norweger war, war ein begeisterter Skifahrer und als er während des Zweiten Weltkriegs als Ingenieur in Los Alamos arbeitete, war er in einem Skiclub, dem einige der renommiertesten Physiker angehörten. Zur gleichen Zeit kam Val Fitch, ein junger Chemiker, nach Los Alamos. Wie Fitch erzählte, war er sehr daran interessiert, die europäischen Physiker kennen zu lernen und eine Möglichkeit war auf Berghängen in der Nähe der Anlage in Los Alamos Ski zu fahren, da die Europäer eher unter sich blieben. In seiner eigenen Erzählung half ihm der Skiunterricht von seinem norwegischen Freund die Tür zu seinem zukünftigen Leben in der Physik zu öffnen.

Val Fitch, der hier Lewis Thomas zitiert – dessen wissenschaftliche Essays genauso gut von Kunst sprechen könnten – hat seine Berufung wie folgt beschrieben: „Man misst die Qualität eines Werkes an der Intensität des Erstaunens“.

MT: Es war also auch die persönliche Entwicklung, sein Interesse und Motivation und die Gründe für seine wissenschaftlichen Karriere, die dich interessiert haben?

LT: Ja, bis zu einem gewissen Grad, aber das, was in „Ground“ passiert, geht über eine persönliche romantische Vision hinaus und suggeriert einen viel größeren Raum, mit dem ich mich gegenwärtig beschäftige und den ich sprachlich noch nicht ganz fassen kann. Was ich bei dem in „Ground“ gezeigten Wissenschaftler bewegt hat war, dass er in seiner Erzählung nahtlos zwischen der Darstellung der von ihm durchgeführten wissenschaftlichen Forschung und den Bedingungen dieser Forschung – wie schwer es ist, diese Art esoterischer Projekte ohne Garantien durchzuführen – und Momenten der Inspiration wechselt, oft dunkle Momente… mitten in der Nacht. Und er ist so stolz auf die Tatsache, dass in der Wissenschaft Menschen aus der ganzen Welt zusammenarbeiten. Es schwingt eine Freude in seiner Stimme mit, wenn er über den kollaborativen Charakter der Arbeit am CERN spricht – Kollaboration, etwas, das für uns ein beeindruckendes Gegenbild zu dem darstellt, was wir normalerweise über die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und in der Politik geschieht, nämlich Konflikte, Repression und Ignoranz und Gier. Die Wahrheit, die Wahrheit ist nicht stabil, und das ist besonders in der Wissenschaft der Fall. Und das ist ein Teil dessen, was mich an ihr und den Menschen, die ich in diesem Jahr getroffen habe interessiert – so leidenschaftlich und konkret, und ehrlich, und keine Angst davor, es zu versuchen, zu experimentieren und falsch zu liegen. Und dann weiterzumachen.

„Ground“ scheint über einem apokalyptischen Abgrund zu schweben. Als es Ende Februar im Kunstverein Nürnberg zum ersten Mal öffentlich präsentiert wurde, steuerten wir auf den Kataklysmus COVID-19 zu und das Projekt nahm diesen spezifischen Bezug auf.

MT: Dein Film „Peggy and Fred in Hell“ (1983-2016) zeigt zwei Kinder, die sich zunächst in einem bunkerartigen, post-apokalyptischen Raum befinden. Das Publikum weiß nicht wo sie sind oder warum sie dort sind. Ihre Verbindung zur „Außenwelt“ besteht darin, dass sie einen Fernseher nachahmen. Irgendwie scheint die Welt von Peggy und Fred mit dem Universum des CERN verbunden zu sein…

LT: Ich denke, dass „Ground“ im Zusammenhang mit „Peggy and Fred“ steht. Zum Teil ist dies eine strukturelle Beziehung, weil ich mich auf einen weiteren Werkzyklus einlasse, der sich im Laufe der Zeit ebenfalls kumulieren wird. Ich bin ähnlich an „Peggy and Fred“ herangegangen, mit der Absicht ein sehr offenes und weites Terrain zu untersuchen.

Vielleicht etwas riskant, aber ich werden ihnen jetzt die Hintergrundgeschichte erzählen, die ich im Kopf hatte, als ich „Peggy and Fred in Hell“ drehte und schließlich abschloss. Im Film selbst ist diese nicht besonders offensichtlich, und jeder Science-Fiction-Liebhaber würde sie als Banalität abtun. „Peggy and Fred“ lässt sich nicht in eine lineare spekulative Phantasie zerlegen. Und es ist keine Fiktion; es ist etwas anderes, auch wenn der Film einen gewissen Erzählmotor hat, der sich über das Ganze erstreckt. Ich mache hier einen Unterschied zwischen Fiktion und Erzählung. Für mich bezieht sich Fiktion mehr auf die Konstruktion einer Geschichte, und Erzählung bezieht sich mehr auf Rhetorik, auf die Form, auf die Vorrichtungen, mit denen eine Geschichte konfiguriert oder vorangetrieben wird.

„Peggy and Fred in Hell“ endet nach der Apokalypse, angenommen wir definieren Leben als kohlenstoffbasiert. Am Ende – und deshalb konnte ich schließlich sagen, dass die Arbeit abgeschlossen ist – versagen die Maschinen (die wir gemacht haben), werden geschlossen, stillgelegt. Menschen, vertreten durch die Kinder, sind schon lange ausgestorben. In der Schlusspassage “The Fold” findet sich ein Hinweis darauf, was die vorletzte Verwüstung verursacht hat; die letzten Zeile: „Oh, der Sturm!“ Der aufkommt, wenn der Erde alle Ressourcen entzogen wurden. Vielleicht passiert das in Tausenden von Jahren in der Zukunft. Maschinen können intelligent sein, aber auch sie haben ihre Grenzen. Indem sie die letzten Ressourcen auffressen, um weiter zu laufen, fressen sie sich selbst auf. Sie fressen sich bei lebendigem Leib auf.

„Peggy and Fred in Hell: Folding“ endet auf einer bittersüßen Note. Die KI-Stimme, die auf etwa zwei Drittel des Films auftritt, ist freundlich, ja sogar tröstlich, aber nicht auf eine vertraute, häusliche Art und Weise wie zum Beispiel Alexa™. Eher etwas wie das Gegenteil von HAL in Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“. Sie ist intelligent genug, um eine Wertschätzung für den Menschen entwickelt zu haben. Sie hat die menschlichen Emotionen lange, lange Zeit studiert, und weil die Menschen ausgestorben sind, wurde diese KI nicht zu, um prädiktive Algorithmen für finanziellen Gewinn zu entwickeln. Vielmehr lernt sie durch das Fernsehen (und die nachfolgenden Medien) immer wieder den eigentümlichen Ort kennen, an dem das so genannte “Menschliche” beobachtet und Daten verarbeitet werden können.

Es fühlt sich so an, als ob diese beiden Werke miteinander in einem Dialog stehen, als ob sie aus einem gemeinsamen Raum kommen, als ob „Ground“ eine erwachsene und gegenwärtige Landschaft sowohl der Hoffnung als auch ominöser apokalyptischer Fäden ist; als ob “Peggy and Fred” jetzt ein Substrat ist, wo es noch Licht gibt….und es ist an die Erde gebunden, und wir können es berühren. Wir können uns die Welt dieser jungen Menschen vorstellen (zumindest in der ersten Hälfte des Films). Wir können uns auf sie als Subjekte beziehen. .

Leslie Thornton – Peggy and Fred in Hell Folding (1983-2016) (Ausschnitt), 95 min S&W, Ton, 16 mm Film auf Digital-Video übertragen. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

MT: Es hat mehr als 30 Jahre Arbeit an ,”Peggy and Fred’’ gebraucht bis das Projekt beendet war. Wie klar war dir das Ende von „Peggy and Fred“, als du 1983 mit dem Projekt begonnen hast? Wie haben die verschiedenen Episoden des Projekts die Gesamtstruktur des Films beeinflusst? Wie bist du an die einzelnen Episoden herangegangen?

LT: Als ich die beiden Kinder kennenlernte, war das Außergewöhnliche an ihnen, dass sie natürlich begabte Imitatoren waren. Sie sahen meine Ausrüstung, als ich in die Wohnung im Erdgeschoss einzog und sie wollten sofort ihre Stimmen aufnehmen. Also setzten wir uns einfach auf die vordere Treppe und sie begannen ihren Auftritt und waren einfach unglaublich. Der Junge mochte es Jack Nicholson nachzuahmen; sie konnten beide lange Sequenzen aus ihren Lieblingsfilmen wiederholen, aber sie erzählten manchmal auch einfach nur Geschichten. So ähnlich wie im Sommerlager und in der Bibelschule, die man am Lagerfeuer hören und erzählen konnte. Ihre richtigen Namen sind Donald und Janis. Ich war es nicht gewöhnt, mit Kindern zusammen zu sein und ich war sehr angetan von den Eigenheiten ihrer Sprache. Ich mochte ihre Beziehung zur Sprache. Es war faszinierend lebendig zu beobachten, wie sie zu sozialen Wesen wurden; wenn man sie Medien und dem sozialen Austausch aussetzte, konnte beobachten wie sie zu den Subjekten wurden, die sie schließlich sein würden. Ich hatte keine Kinder, deshalb war es vielleicht besonders auffallend präsent für mich. Als ich zu filmen begann, suchte ich genau danach. Ich wollte mich nicht in ihre Autonomie und ihren Raum einmischen, ich wollte hören, wie sie einfach sie selbst waren, in einer Umgebung, die ihnen ihre Freiheiten ließ. Es musste ein spiel ähnlicher Kontext bleiben. Das Filmen fühlte sich wie ein „ernsthaftes“ Spiel an diesem ersten Tag und wir hatten alle Spaß daran.

In der ersten Episode, die sich sehr stark auf die Stimme und das Sprechen konzentriert, bat ich die beiden ein Lied zu singen. Fred fängt an zu singen und hört nicht auf und er fängt wieder und wieder an zu singen. Die längste Aufnahmezeit, die man auf 16mm-Film machen kann, beträgt 11 Minuten, also zählt jede Sekunde, aber ich konnte nicht aufhören zu filmen, weil er nicht aufhörte zu singen! Was faszinierend war, ist, dass er hier erst sechs Jahre alt ist. Er kennt nicht alle Worte und nicht einmal die Bedeutung von dem, was er singt, wenn er zum Beispiel über Liebe singt. Er versteht die Worte falsch. Sie sind deformiert, unsinnig, aber sie sind wie Platzhalter, Brücken um weiter zu singen.

Wenn Babys geboren werden, ist ihr Schreien symmetrisch. Wenn es aufgenommen wird, klingt es genau gleich, ob es rückwärts oder vorwärts läuft. Nach etwa einem Monat hört man eine Richtungsänderung; die Vokalisierung wird linear und gibt ihr eine Form. Was sich in Freds Gesang zeigt, ist eine latente Spur dieser sprachlichen Dissymmetrie. Peggy ist älter, und in ihrem Gesang zeigt sich ein anderes Selbstbewusstsein.

Mit der weiteren Arbeit an der Serie begann ich eine andere, weniger lineare Form des Schneidens einzuführen, zum ersten Mal in der Episode mit dem Titel „Dung Smoke Enters the Palace]“. Die letzte lineare Passage findet zu Beginn der Episode „Paradise Crushed“, in Form einer Verschmelzung von Geschichten mythologischen Ursprungs, die aus verschiedenen Kulturen stammen, von der Bibel bis zu früh chinesischen, indoeuropäischen, semitischen und indianischen Erzählungen. Alle diese Erzählungen enthalten Fluten und Licht. Diese Passage befindet sich in der Mitte des Films und ist ironischerweise der linearste und kohärenteste erzählerische Moment. Danach bricht die rationale Konfiguration zusammen. Es gibt mehr Fragmentierung, Diskontinuität und Rätsel; es gibt ein wachsendes Gefühl einer anderen Anwesenheit, einer anderen Mentalität; die Kinder beginnen, sich in einer Inkohärenz aufzulösen. Es ist das erste Mal, dass sich die Logik des Werkes auf diese Weise, für die Dauer, völlig verändert. Es gibt keine Rückkehr zu einem stabilen Boden. „Paradise Crushed“ entstand nach dem 11. September; um diesen Punkt schien “Peggy und Fred in Hell“ keine Science-Fiction mehr zu sein. Es wurde mehr und mehr zu einem gestörten Abbild der Gegenwart.

Leslie Thornton – Jennifer, Where Are You? (1981) (Ausschnitt), 11 min, Farbe, Ton, 16 mm Film auf Digital-Video übertragen. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

MT: In “Jennifer, Where Are You?” hast du auch mit einem Kind gearbeitet – jünger als Fred oder Peggy. Welche Art von Beziehung hat “Jennifer” zur Kamera und zur Stimme aus dem Off die immer wieder ,,where are you?” fragt?

LT: Jennifer, von der wir annehmen, dass sie das Kind ist, das wir sehen, ist ohne Stimme. Ihre Macht liegt in der Tatsache, dass sie sich versteckt. Sie spielt. Sie ist sogar unartig. Und sie ist unsichtbar. Im weiteren Verlauf des Films treten andere Kräfte ein, zuweilen im wahrsten Sinne des Wortes. Wir sehen, dass ihr Streichhölzer ausgehändigt werden. Wieder und wieder. Es ist nicht mehr ihr Raum. Sie erschöpft sich, während jetzt die größere Welt um sie herum zu spielen scheint. Obwohl wir immer wieder die Stimme eines Mannes hören, der nach ihr ruft, dieselbe Stimme, geht es ihr zunächst gut und sie hat ihren eigenen imaginären Raum, und sie behält ihn bei und fällt dann aus ihm heraus. Für mich ging es in diesem Film um das Mündig werden, dass sich der Außenwelt bewusst zu werden. Das war für mich die Erzählung. Ihr Bewusstwerdungsmoment kommt in den letzten Sekunden, wenn sie streng in die Flamme zurück starrt. Sie versteht es. Sie gewinnt eine weitere Bewusstseinsebene, ein Bewusstsein, das das Überleben einschließt. Um es etwas umgangssprachlich auszudrücken: Sie geht durch ihre Teenagerzeit! Das ist hart. Und sie wird wahrscheinlich überleben. Das ist die Allegorie des Films, zumindest für mich. Natürlich tut er auch noch eine Menge anderer Dinge, formal und strukturell.

Leslie Thornton – X-TRACTS (1975) (Ausschnitt), 8:30 min, S&W, Ton, 16 mm Film auf Digital-Video übertragen. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

MT: Wie hängt deiner Meinung nach Sprache mit dem Prozess der Subjektwerdung zusammen?

LT: Was mir bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten als erstes einfällt, ist die Erinnerung an mein eigenes, im Entstehen begriffenes, idiosynkratisches Bewusstsein für Sprache als Kind – Jahre später wurde diese Erinnerung so zentral für den Kern meiner Arbeit. Ich bin auf eine Art und Weise Sprachzeugin – die ziemlich ursprünglich ist und sie ist absolut zentral für meine Arbeit. Sie ist vorhanden in „X-TRACTS“, in „Jennifer“, in fast allem anderen außer der Binocular Series. Und wenn Sprache jemals absolut, fast beängstigend dominant wurde, dann in „Ground“. Wir können diese Sprache nicht besitzen. Der Redner kann sie besitzen. Wir können sie nicht besitzen. Wir können sie nicht konsumieren oder besitzen. Wir können ihn kaum verstehen, abgesehen von seinen anekdotischen Kommentaren. Es ist eine Demonstration von Redeweisen. Und all das wird noch verstärkt durch das, was entfernt oder weggenommen wird, der Sinn eines räumlichen Kontextes. Ist das nicht ein bisschen wie diese digitale Welt, die in jeder Minute von uns zehrt?

Aber diese Figur in „Ground“ ist kein Dieb. Er scheint mir eigentlich etwas ganz Wunderbares zu sein, aber wir können ihn nicht ganz fassen und das wird zu einem Teil der bewussten Erfahrung des Werkes. Das ist nicht unser Raum, wir können uns durch seine Worte und sein Sprechverhalten genötigt, gestört und/oder getröstet fühlen können und befinden uns an einem Ort absoluter Andersartigkeit befinden. Was ist dieser Ort? Es ist die Vorstellung von etwas Unvorstellbare – der Ursprung des Universums, eine Pandemie, eine Apokalypse, unser Überleben, einen netten Kerl, Leidenschaft. Zusammenarbeit. Nicht Isolation. Nicht Konkurrenz. Es ist ein brutal menschlicher Raum – auf eine Art und Weise, die wir spüren, aber nicht besetzen können. Er gibt dem Betrachter nicht nach. Für mich erzeugt er sowohl ein Gefühl der Sehnsucht als auch der Angst. Zuerst dachte ich, ich würde einen Film über eine Apokalypse machen und es wurde ein Film über den Versuch, nicht über das Auslöschen. Und die ganze Hoffnung liegt in seiner Stimme. Nirgendwo sonst.

MT: Woher kommt das Filmmaterial in deinen Filmen?

LT: Ich drehe das meiste Material selbst. Viele Leute denken, ich benutze Found Footage, aber ich produziere immer mein eigenes “Archiv” und es besteht aus Material, das ich selbst filme. Ich schaffe einen Pool von Material, und manchmal ist es sehr fokussiert, wie in „Peggy and Fred in Hell“. Bei den Dreharbeiten gibt es keine Zufälle. Ich suche nach einem bestimmten Verhalten und dafür würde ich die Kamera laufen lassen. Da es teuer ist auf Film zu drehen, und „Peggy and Fred“ fast vollständig auf 16mm-Film geschossen wurde, muss man beim Filmen sehr anspruchsvoll und sogar vorsichtig sein und das wirkt sich auf die Form aus. Ich arbeite auch ganz bewusst mit angeeignetem Material. In „Peggy and Fred in Hell: The Prologue“ gibt es eine Reihe von angeeigneten Tönen und Bildern; die Eröffnungsaufnahme der Stimmbänder zum Beispiel wurde 1926 in den Bell Labs gefilmt. Ich fand sie in einem Archiv und ließ sie kopieren. Ironischerweise ist sie stumm. In der Eröffnungsvokalisierung sind zwei Frauenstimmen zu hören, eine aus Händels Oper Rinaldo und, darüber gemischt, ein Lied von Yma Sumac, einer amerikanischen Sängerin mit einem Tonumfang von sieben Oktaven. In der nächsten Szene fragt ein Voice-Over nach der bevorzugten Tonhöhe für Männer- und Frauenstimmen. Ich habe die Männerstimme in der Tonhöhe nach unten verschoben, so dass sie tiefer und tiefer, übertrieben und unheilvoller wird. Die Frauenstimme war bereits quietschend und hoch, also ließ ich sie so, wie sie war.

Leslie Thornton – Cut from Liquid to Snake (2018) (Ausschnitt), 27 min, Farbe und Ton, HD-Video. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

MT: Stimmen scheinen in deiner Arbeit die Fähigkeit zu haben, lineare Zeit zu durchbrechen. Während sich das Bild vorwärts bewegt, können Stimmen gebrochen und unverbunden erscheinen, nicht-diegetisch, auch in Bezug auf den physischen Akt des Sprechens, wie in „Cut From Liquid to Snake“ (2018) …

LT: In „Cut From Liquid to Snake“ gibt es eine Passage im Soundtrack, die an dem Morgen aufgenommen wurde, als die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten angekündigt wurde. Sie stammt aus einem Telefongespräch mit einem Freund , der normalerweise eine breite historische Sicht der Dinge hat und ich habe ihn in anstrengenden Zeiten oft angerufen. Alles, was ich mit diesem Material gemacht habe, ist seine Seite des Gesprächs auszulassen. In der Tonspur hört man also meine die Seite eines Telefongesprächs, chronologisch geordnet. Ich habe ein paar Zeilen herausgeschnitten, hauptsächlich das Wort ‚Trump‘. Rückblickend würde ich sagen, dass ich eine Art Vorahnung hatte, dass ich dieses Wort ausgelöscht habe. Ich wollte diesen Namen nicht aussprechen; ich wollte ihm nicht noch mehr Macht verleihen. Ich markierte in der Arbeit eine Krise und für ein amerikanisches Publikum war der Bezug klar, zumindest zu der Zeit. Was ich fühlte und feststellen wollte war, dass dies eine Krise von beispielloser, erschreckender und unvorhersehbarer Art war. In dem Soundtrack höre Sie mich darüber sprechen, wie wir mitten in der Nacht fernsehen. Und dann passierte etwas, was sich wie eine Verschwörung anfühlte – die Fernsehübertragung brach genau in dem Moment ab, als die Wahlergebnisse bekannt gegeben wurden, um 3.25 Uhr morgens. Geschah das gerade in meinem Haus, in meiner Straße, in New York City, oder passierte das überall? Es war so präzise; war es absichtlich? Was war geschehen? „Cut From Liquid to Snake“ registriert also die Angst einer isolierten Stimme.

In der Geschichte meiner Praxis war dieses Projekt ein wichtiger Wendepunkt. In „Cut From Liquid to Snake“ gibt es keinen Ausweg aus dem Schrecken oder dem Zusammenbruch. Wenn es einen Moment der Hoffnung gibt, dann ist es im Gespräch über das Denken. Ich fühlte mich sehr verantwortlich, als ich dieses Werk zum Funktionieren brachte. Für jemanden wie mich, der bisher auf eine sehr subtile Art und Weise gearbeitet hatte, war diese Arbeit ein offensiver Alarm. „Liquid Snake“ konstruiert eine Atmosphäre von Beklommenheit und Besorgnis. Sie thematisiert auch einen historischen Schreckensmoment – den Einsatz der Atombomben.

Wenn eine Medienarbeit für einen Filmloop in einem Installationskontext gemacht wird, kann etwas Interessantes passieren, wenn man mehr als einen einzelnen Zyklus durchschaut. Im Fall von „Cut Fom Liquid to Snake“ findet eine Verschiebung statt, so dass das historische Material in unsere Gegenwart hineingezogen zu werden scheint. Die Frau, die über die Geheimhaltungsregeln spricht, ist meine Tante, die an meinen Vater und Großvater im Zweiten Weltkrieg und an die Atombombe erinnert. Ihre Erinnerungen resonieren mit den aktuellen nuklearen Bedenken und Sorgen.

Von „Cut From Liquid to Snake“ führt eine Spur direkt zu „Ground“.

„Ground“ wirkt wie ein Abgrund, aber der Tonfall der Stimme und seine Erzählungen – diesem mehr oder weniger unbearbeiteten, linearen Kommentar – sind so tiefgründig und so detailliert in der Darstellung der Arbeit, die dieser Wissenschaftler und seine Forschungsgruppe geleistet haben, dass sie sich fast anfühlen wie Ideen, die einem mitten in der Nacht kommen, Ideen, die einen aufwecken, die man aber kaum entziffern kann. Die Stimme kann nicht in einem natürlichen Körper lokalisiert werden – seine Gestalt wird als Wellenformen wiedergegeben, ein Drahtgitter-Schema, ein Diagramm, das der Form eines realen Körpers locker folgt. Wenn man jedoch seine Stimme hört, wirkt diese Präsenz wie ein gewisser Trost. Wenn „Cut From Liquid to Snake“ nur Dunkelheit, das Ende der Tage thematisiert, kann man bei „Ground“ eine Art Hoffnung empfinden; es gibt Menschen, die versuchen, die Dinge zu verstehen. Man denkt „Gott sei Dank versucht es jemand“. Und ohne es zu beabsichten, hängt das auch direkt mit den aktuellen Umständen der Coronavirus-Pandemie zusammen. Außerdem, um diese Idee weiterzutragen, sehen wir diese Menschen nicht; sie erscheinen selten in den Medien, aber wir wissen, dass sie da sind.

Als ich „Ground“ produzierte , habe ich mir auch Sorgen gemacht. Ich wollte nicht, dass es ein komplett negatives Bild wird und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es das ist oder nicht.

Leslie Thornton – Strange Space (1992), 4 min, Farbe, Ton, Digital-Video. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

MT: Du verwendest Abstraktion und auch Raster, um visuelle Elemente in deinen Filmen zu organisieren, wie in  “Strange Space” (1993) und in “Last Time I Saw Ron”. (1994). Der Wissenschaftler in „Ground“ wird in eine Form von visualisierter Strahlung, Wellenlänge oder Frequenz übersetzt. Es wirkt so, als ob das Gitter lebendig geworden ist und die räumliche Regression aufgebrochen hat…

LT: Als ich als Künstlerin zu arbeiten begann, malte ich und ich organisierte die Farbe in gitterartigen Strukturen. Ich spielte mit einer Art gemessener Form – einem Gitter oder einem Rechteck innerhalb eines Rechtecks – und der Fluidität und gestischen Materialität des Mediums. Innerhalb der Gitter gab es Farbstriche, tropfende Farbe, Texturen vom Pinsel – über das Muster hinaus, die das Ganze zusammenhielten. Ich arbeitete zwischen einer eher analytischen Sensibilität und einer freudigen und exzessiven Erkundung, wobei ich dasselbe Material verwendete. Von dieser Orientierung ausgehend, war das Drehen eines Films wie „X-TRACTS“ (mein erster Film, den 1975 zusammen Desmond Horsfield gedreht habe) vollkommen konsistent und sinnvoll: Die präzise Struktur der Bilder, Aufnahmen und Sequenzen wurden zu einem Netz, das die Widerspenstigkeit, die Muster und Auswüchse des Lebens einfängt.

In späteren Werken werden die Beziehungen zwischen Struktur bzw. Rahmen und Leben/Sein noch komplizierter und subtiler. Das Verwenden der Gitternetzlinien in „Strange Space“ ist auf einer Ebene eine Anleitung für das Sehen, eine Art Referenz an ein wissenschaftliches Auge. In „Strange Space“ wird das Raster über dokumentarisches Filmmaterial vom Mond, NASA-Dokumentarfilmmaterial und anderen Outtakes gelegt. Wenn Sie das Raster über das NASA-Filmmaterial legen, werden Sie aufgefordert, sich besser bewusst zu machen, was Sie sehen. Es gibt eine Schlussfolgerung des analytischen Auges, des objektiven medizinischen Blicks. Das ist der „Strange Space“.

Leslie Thornton – The Last Time I Saw Ron (1994), 12 min, Farbe und S&W, Ton, 16 mm Film auf Digital-Video übertragen. Courtesy die Künstlerin, Rodeo, London / Piraeus und Kunstverein Nürnberg.

MT: Bei dieser Filmauswahl gibt es verschiedene Arten, wie die Musik eingesetzt wurde. In “Jennifer, Where Are You?” ist die Musik fast schmerzhaft und weit weg von dem Bild, eine Art Belastung für die Hauptfigur, während in „The Last Time I Saw Ron“ die Musik von Richard Strauss wirklich schön ist und der Figur im Film sehr nahe steht. In „Ground“ scheint mir die Musik sehr digital zu sein – es wirkt, als würde man dem metaphorischen Klang von Daten lauschen.

LT: In „Jennifer“ benutze ich die Musik als „Filmmusik“. Die Verwendung von Musik erhöht die Wirkung von Affekten. Ich mache jedoch keine narrativen Filme – ich kann Musik oder Ton als Manipulation verwenden, wie in einem konventionellen narrativen Film, wo sie eine zusätzliche Schicht neben Sprache und Handlung darstellt und wo sie ein emotionales Register unterstreicht. Bei meinem Umweg über die Filmmusik möchte ich, dass die Zuschauer*innen dabei bleiben; ich nutze einige der Tropen des konventionellen Kinos, um das Engagement zu intensivieren. Es ist ein Beispiel für meine Plünderungen der dominanten Formen des filmischen Geschichtenerzählens. Ich spiele auch mit der Kontinuität im Schnitt. In „The Last Time I Saw Ron“ ist es Musik als Musik. Sie ist mit ihm, mit Ron. In „Ground“ soll die Musik eine Art viszerale Überlastung antreiben. Worauf sich die weibliche Stimme bezieht, während diese frenetische Musik spielt, ist absolut phänomenal: Es ist der Ort der Datenverarbeitung am CERN. Es fühlt sich an, als ob die Dinge immer schneller und schneller werden, bis an den Rand des Scheiterns und doch spricht sie in Echtzeit. Das Einzige, was sich beschleunigt und verdichtet ist die Musik unter ihrer Stimme. Sie lässt unsere Herzen schneller schlagen. Es ist eine metaphorische, rhetorische Verwendung von Sounddesign, um die Masse und Geschwindigkeit der Informationen, die verarbeitet werden, zu intensivieren.

MT: Es gibt also Möglichkeiten, wie die Musik unterschiedliche Annäherungen an das Material herstellt. Ich denke, es gibt noch eine andere wichtige formale Entscheidung, die in deiner Arbeit wiederholt auftaucht, nämlich die Umkehrung von Schwarz und Weiß im Schwarzweißfilm.

LT: Das Bild wird denaturiert, so dass sich der Fokus auf ein anderes Register verschiebt. Es braucht einige Schritte, bis ein Bild in Wellen und Rauschen umgewandelt wird. Das sind Strategien, genau wie die gelegentliche Verwendung meiner eigenen Person. Ich mache keine Arbeiten über „mich“: Dies ist nur ein möglicher Zugang. Es handelt sich um eine absichtliche Manipulation, ebenso wie die Verwendung von ‚Filmmusik‘. Es ist im Zitat. Sie ist auch nicht versteckt; ich interessiere mich für die Performance, die Figur ist eine Konstruktion. Ich arbeite nicht mit Schauspielern – wenn eine Version von „Leslie Thornton“ erscheint, gibt es eine Unmittelbarkeit, und es ist zweckmäßig, einen Ort der Verletzlichkeit und der Perspektive zu schaffen. In „X-TRACTS“ gibt es eine Zeile: “of necessity I become an instrument.” (aus einer Notwendigkeit heraus werde ich zu einem Instrument“). Ich benutze mich selbst als Instrument. Es geht nicht um das Drama meiner persönlichen Geschichte. Das gefällt mir nicht. Das hat nichts mit Romantik zu tun.